Intendant Gerd Gutbier im Spielzeitheft 1961/1962

Erstes Spielzeitheft Gerd Gutbiers als Intendant.

Abschrift des Originaltextes des Spielzeitheftes

Haben Sie auch schon einmal nach einem arbeitsreichen Tag geseufzt: „Mein Beruf frißt mich auf“, oder; „Meine Arbeit braucht meine ganze Kraft, ich komme nicht mehr zu mir selbst!“?

Ich glaube, wir alle haben uns schon einmal so oder ähnlich geäußert. Sind das nur Redensarten, Ausreden, derer man sich bedient, um sich einer lästigen Verpflichtung zu entziehen, Entschuldigungen, die man für die eigene Trägheit sucht; oder ist es uns ernst damit? – Natürlich meinen wir das in vollem Ernst und weisen zur Bestätigung die Zahl unserer Arbeitsstunden oder unseren dichtbeschriebenen Terminkalender vor.

In der Tat sieht unsere Welt aus, als seien wir alle eingespannt in einen engbemessenen Zeitplan, von einer unbekannten Macht zur Erreichung eines unbestimmten Zieles angetrieben. Nun sind es aber doch die Menschen – also wir -, die das Gesicht der Welt formen. In unserer Hand liegt es doch, den Rhythmus der Zeit und das Maß unseres Handelns zu bestimmen. Ist also die Unrast unserer Zeit in Wirklichkeit unsere eigene Unrast, ist die Maßlosigkeit der Anforderungen, die an uns gestellt werden, in Wirklichkeit unsere eigene Maßlosigkeit, mit einem Wort: ist das Gesicht der Welt unser eigenes Gesicht? –

Wir können diesen Fragen nicht ausweichen; und so werden auch an den Schwerpunkten unseres neuen Spielplanes im Bamberger Theater Werke stehen, die aus dem Spannungsfeld zwischen dem Menschen und seiner Umwelt kommen. Freilich kann und soll das Theater keine Lebensfragen beantworten, oder die Menschen bessern, bekehren und erziehen. Die Bühne ist weder ein Lehrstuhl noch eine Kanzel. Sie ist ein Spiegel, in dem der Zuschauer seine Welt, der er eben entflohen ist, auf geheimnisvolle Weise durch die Hand des Dichters verändert, wiedererkennt. Diese Scheinwelt hat etwas, das dem wirklichen Leben fehlt: eine Form, sie ist wiederholbar und zeitlos gültig, sie ist Kunst geworden.

Wie das Kind, das sich im nachahmenden Spiel seiner Angst vor der für ihn unfaßbaren Welt der Erwachsenen entledigt, erfährt auch der Erwachsene im Miterleben des Spiels auf der Bühne Befreiung und Erlösung aus der Beklemmung und Gebundenheit seines Alltags. – So sind auch Sie eingeladen, an diesem uralten festlichen Ereignis teilzunehmen, das sich allabendlich im Theater vollzieht. Die Welt der Bühne nimmt Sie auf, um Sie durch die Zauberkraft von Eros, Mimus und Maske froher und gelöster als zuvor in Ihren Alltag zu entlassen. Nutzen Sie diese Gelegenheit einer schönen und sinnvollen Gestaltung Ihres Feierabends!

 

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